Liebe bekult-Mitglieder
Im Kornhausforum findet die Eröffnung von Swiss Press Photo 21 statt. Einlass nur mit Zertifikat oder Testnachweis. Drinnen im Saal herrscht keine Maskenpflicht, die Abstandsregel entfällt und auch ein Apéro ist wieder möglich. Ein bisschen Normalität ist zurück, dies ausgerechnet in einer Präsentation der besten Schweizer Pressebilder des letzten Jahres, die quer durch alle Kategorien fast nur ein Thema haben: Corona.
Doch Normalität – soweit sie sich auf die Zeit vor der Pandemie bezieht – gibt es nicht mehr. Während der Vernissage im Kornhausforum zieht ein Demonstrationszug mit Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern, unter ihnen viele Kinder, die Zeughausgasse herunter. Untermalt von den Glocken der weissgekleideten «Freiheitstrychler», skandieren die Menschen gebetsmühleartig
«Liberté, Liberté» und schwenken Schweizerfahnen. Der Zug der Coronaleugnerinnen und Impfverweigerer ähnelt einer Karfreitagsprozession. Wie ein schweres Kreuz scheint die Empörten das Gewicht der Welt zu drücken, das sie meinen, tragen zu müssen. Dass die Freiheit, die sie so ultimativ einfordern, es ihnen überhaupt erst möglich macht, an diesem warmen Spätsommerabend durch die überfüllte Innenstadt ziehen zu können, blenden sie aus.
Die Demonstrierenden wären an diesem Abend fast allesamt nicht ins Kornhausforum gekommen, weil sie vermutlich keine Zertifikate vorzuweisen gehabt hätten. Sie werden nun an vielen Orten bei der Eingangskontrolle hängenbleiben. Vielleicht wollen sie aber gar nicht rein, wo auch immer, ins Stadion, in ein Kulturlokal, ins Restaurant. Umgekehrt gefragt: Wollen wir sie überhaupt? Eine sicher nicht weniger legitime Überlegung angesichts der dumpfen Grimmigkeit und der gefährlich aus dem Ruder laufenden Verschwörungsphantasien, die von diesem Demonstrationszug ausgehen.
Eine der vornehmsten Aufgaben der Kultur ist es zweifellos, sich für alle zu öffnen, auf alle zuzugehen. Und gerade in diesen Zeiten der Pandemie zeigte sich eindringlich und manchmal berührend, welche Bedeutung der Kultur im gesellschaftlichen Zusammenleben zukommt. Sie baut Brücken, sie deutet die Welt, sie schafft – ganz einfach – Abwechslung vom Alltag. Die Menschen dort unten in der Gasse wieder zu erreichen, wird schwierig sein. Aber die Wunden, die Corona aufgerissen hat – soziale Schere, Einsamkeit, Misstrauen in die politische Führung –, das sind auch Herausforderungen für die Kultur.
Diese Herausforderungen anzunehmen, das setzt – jetzt übertragen auf den realpolitischen Alltag – einen funktionierenden Kulturbetrieb voraus. Dafür wiederum braucht es öffentliche Unterstützung, konkret: die Kulturförderung der öffentlichen Hand. In der Stadt Bern steht sie wieder zur Diskussion, nicht Corona-bedingt, hausgemacht. Am 2. September hat der Stadtrat über das Budget 2022 und die Finanzplanung bis 2025 befunden. Was sich bereits Mitte August am bekult-Podium beim StadtKunstFest im Progr abgezeichnete, ist eingetroffen: Die Stadtgalerie wird es weiterhin geben, das New York-Stipendium und der nie richtig eingeführte Kredit für Promotion und Distribution sind weg. Bei der Finanzplanung, die der Stadtrat zur Kenntnis nahm, soll ab 2024 bei den Leistungsvereinbarungen weniger eingespart werden als zunächst angenommen.
Auch wenn bekult den Standpunkt vertreten hat, bei der Kultur sei in dieser Runde auf Kürzungen ganz zu verzichten: Mit den Resultaten der Finanzdebatte im Stadtrat kann die Kultur leben. Mehr an Zugeständnissen zu erwarten, wäre unrealistisch gewesen. Aber bekult hat im Vorfeld der Stadtratssitzung und bereits 2020 bei der letzten Sparrunde darauf hingewiesen, wie verhängnisvoll dieser Abbau in kleinen Schritten sein kann. Einmal mehr wurde am vorletzten Donnerstag betont, dass die vorgesehenen Kürzungen sich nicht merklich auf den Kulturbetrieb auswirken würden – dass die Vielfalt der Berner Kultur nicht geschmälert wird. Nicht jetzt, aber: Viele kleine Kürzungen sind irgendeinmal eine grosse, bloss dass es dann für Korrekturen zu spät sein wird. Die seit diesem Jahr wegfallende Bundesmillion ist schon fast nicht mehr der Rede wert, der Altstadtkredit, den das Grüne Bündnis zu retten versuchte und der unter anderem vielleicht der Puppenbühne zukommen könnte, die dringend darauf angewiesen wäre, fliesst nicht mehr. Es mögen, zumindest auf den ersten Blick, durchwegs verkraftbare Einsparungen sein, aber das Geld ist weg – und fehlt nun irgendwo.
Die Freude über die Rettung der Stadtgalerie und die Korrekturen bei anderen Sparvorschlägen ist gross – bekult dankt der Stadtratsmehrheit von Herzen. Courant normal ist trotzdem nicht angesagt. Die Kultur muss sich weiterhin einmischen in die städtische Finanzplanung und mit der Politik im Gespräch bleiben. Auch die schöne Solidarität, die bei der Stadtgalerie quer durch alle Sparten spielte, muss sie sich erhalten. Denn wenn bei den einen gestrichen wird, bekommen das auch die anderen zu spüren. Stadtpräsident Alec von Graffenried sagte es im Stadtrat so: Institutionen mit Leistungsvereinbarungen wie das Schlachthaus, die Dampfzentrale, Reitschule und Grosse Halle würden heute die freie Förderung mittragen. Für die Verträge ab 2024 kündigte er deshalb ein Modell an, das mehr Flexibilität in den Leistungsvereinbarungen ermöglicht. Also mehr Ausgleich zwischen Institutionen und freier Szene. Das ist spannend. Aber darf nicht Politik und Verwaltung überlassen werden. Da muss die Kultur mitreden!
Liebe Grüsse Bernhard Giger